Schulz von Thun und Rosenbergs GFK – Gemeinsamkeiten und Unterschiede, ein Vergleich
Essay: Was versteht man unter dem Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun? Wie kann
man mit diesem Modell Kommunikationsstörungen erklären?
„Kommunikation ist eine Kette mehr oder weniger nützlicher
Missverständnisse.“ (Steve de Shazer)
„Zwischen dem, was ich zu meinen glaube und dem was ich glaube, dass
ich sagen will, dem was ich letztendlich sage und dem was du glaubst, dass ich es meine und dem, was du glaubst, was ich sagen will und dem, was du glaubst, das ich gesagt habe, liegen 9
Möglichkeiten, sich misszuverstehen.“ (Quelle unbekannt).
Menschen missverstehen sich. Aber sie verstehen sich auch. Worin liegen die
Unterschiede zwischen gelungener und misslungener Kommunikation? Schulz von Thun schlägt sein Vier-Ohren- und Vier-Zungen-Modell vor, um Kommunikationsstörungen zu erklären. In jeder (verbalen)
Aussage (die nonverbale Kommunikation bleibt in diesem Essay außen vor), stecken für ihn 4 Botschaften:
-
über die Sachebene
-
über die Beziehungsebene
-
über die Selbstoffenbarung
-
über die Appellebene
Der Empfänger interpretiert die Botschaft auf allen 4 Ebenen.
Kommunikationsstörungen und damit Konflikte entstehen, wenn es dabei zu Unstimmigkeiten kommt. Diese Unstimmigkeiten können die Qualität der vier Botschaften betreffen als auch deren Gewichtung.
Es könnte zum einen sein, dass etwas anderes gemeint war als auch dass der Fokus auf einer anderen Ebene lag oder beim Empfänger liegt.
Als Beispiel wird gerne das Paar herangezogen, das in einem Auto sitzt. Der
Beifahrer sagt: „Da vorne ist grün.“ Auf der Sachebene könnte er meinen: „Ich sehe eine grüne Ampel.“ Er könnte aber auch meinen, dass dort ein guter Platz zum Picknicken wäre. Je nach Kontext
sind hier und auf jeder anderen Ebene der Kommunikation unzählige Interpretationen möglich. Auf der Beziehungsebene könnte er meinen: „Ich unterstütze dich gerne beim Autofahren, weil wir ein
Paar sind.“ oder auch „Ich glaube, ich bin der bessere Autofahrer von uns beiden.“ Auf der Selbstoffenbarungsebene könnte er meinen: „Ich bin ungeduldig, weil mir wichtig ist, schnell
anzukommen.“ oder auch „Ich bin über deinen Fahrstil genervt.“. Auf der Appellebene könnte er meinen: „Tritt aufs Gas!“ oder „Lass mich lieber fahren!“ Jetzt gibt es auch wieder unzählige
Möglichkeiten, wie der Empfänger die Botschaft interpretieren (encodieren) kann.
Was mich interessiert: Liegt die Ursache des Konfliktes wirklich in einer
fehlerhaften Informationsübertragung also in der Kommunikationsstörung oder ist sie woanders zu suchen. Wenn Konfliktvermeidung unser Ziel ist nach einer Menschheitsgeschichte voller Kriege,
welche Möglichkeiten haben wir dann? Kann es sein, dass einfache Kommunikationsanalyse und -regeln die Lösung sein könnten?
Diese Frage beschäftigt mich seit meiner Kindheit. Kürzlich stieß ich
diesbezüglich auf ein vielversprechendes Konzept: Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshal B. Rosenberg. Rosenberg entstammt wie Schulz von Thun der humanistischen Psychologie – er war ein
Schüler von Carl Rogers. Nach Entwicklung der Grundlagen seines Konzeptes reiste er in aller Welt herum zu Konfliktherden, um Frieden herzustellen und Krieg zu verhindern oder zu beenden. Dabei
war er beeindruckend erfolgreich.
Im Unterschied zum Schulz-von-Thun-Modell ist das Kernelement nicht Analyse (der
Kommunikationsebenen und deren Interpretation), sondern Empathie. Einmal hielt Rosenberg einen Vortrag in einer Kirche eines amerikanischen Ghettos. Der Anführer einer „schwarzen“ Gang kam in die
Kirche und setzte sich demonstrativ in die erste Reihe mit verschränkten Armen. Er war der Meinung, Gewalt müsse man mit Gewalt begegnen. Rosenberg gab ihm Einfühlung (Schulz von Thun würde
sagen, er entschlüsselte diese Aussage auf allen 4 Ebenen) und der Anführer wurde schließlich einer seiner engsten Mitarbeiter.
Dennoch sehe ich vor allem Gemeinsamkeiten beider Modelle. In der gewaltfreien
Kommunikation wird vorgeschlagen, im Konfliktfall auf einen Viererschritt zurückzugreifen. Die vier Schritte sind zu verbalisieren:
-
Beobachtung (ohne Wertung oder Vorwurf)
-
Gefühl (Ich-Botschaft: Wie fühle ich mich. Dabei ist das Gefühl von
Pseudogefühlen zu unterscheiden. „Ich fühle mich ausgennutzt.“ wäre solch ein Pseudogefühl. Es enthält eine Wertung. „Traurig“ oder „Ängstlich“ wären dagegen wirkliche
Gefühle) -
Bedürfnis (Für Rosenberg ist ein Gefühl ein Signal für ein
Bedürfnis) -
Bitte (keine Forderung. Es muss dem Gegenüber die Möglichkeit gegeben
sein, „Nein“ zu sagen)
Im Falle von „Da vorne ist grün!“ könnte eine gelungene Kommunikation so
aussehen:
„Die Ampel leuchtet grün. Ich denke, wenn wir in diesem Tempo
weiterfahren, schlägt sie auf rot um. Ich bin gestresst und fühle mich unwohl. Ich würde gerne pünktlich bei deiner Mutter ankommen. Wäre es ok, wenn du etwas schneller fahren
würdest?“
Das sieht auf den ersten Moment unnötig lang und gekünstelt aus. Aber es wirkt
Wunder. Das Wichtigste bei der gewaltfreien Kommunikation ist, dass man natürlich bleibt. Es soll alles aus einem Gefühl der Empathie und des Miteinanders entstehen. Der Fahrer hat jetzt ganz
andere Möglichkeiten zu reagieren.
Ich denke, gewaltfreie Kommunikation funktioniert unter anderem deswegen so gut,
weil sie die Interpretationsmöglichkeiten auf den vier Kommunikationsebenen von von Thun einschränkt. Die Beobachtung entspricht der Sachebene, das Gefühl und das Bedürfnis entspricht der
Selbstoffenbarungsebene und die Bitte der Appellebene. Nur für die Beziehungsebene gibt es keine Entsprechung – sie schwingt nach wie vor unterschwellig mit. Das explizite Formulieren aller drei
Ebenen beugt Missverständnissen vor. Ein weiterer Grund für das Funktionieren könnte darin bestehen, dass der Fokus von der Beziehungsebene verlagert wird auf die anderen drei Ebenen. Aber das
glaube ich nicht. Ich denke, man könnte Rosenbergs Modell verbessern, wenn man die Beziehungsebene als fünften Schritt mit dazu nimmt. In Bezug auf das Ampelbeispiel sähe das dann vielleicht so
aus:
„Die Ampel leuchtet grün. Ich denke, wenn wir in diesem Tempo
weiterfahren, schlägt sie auf rot um. Ich bin gestresst und fühle mich unwohl. Ich würde gerne pünktlich bei deiner Mutter ankommen. Wäre es ok, meine liebe Frau, wenn du etwas schneller fahren
würdest?“
Wie übrigens auch Marsha Linehan (DBT) und Jon Kabat-Zinn (MBSR), hat auch Marshal
B. Rosenberg (GFK) sein Konzept dem Buddhismus entnommen. Daraus machen und machten alle drei auch keinen Hehl. Der Mahayana-Buddhismus als größte Strömung innerhalb des heutigen Buddhismus’
entstand 500 Jahre nach Buddha vor 2.000 Jahren entlang der Seidenstraße zur gleichen Zeit als auch das Christentum entstand. Es war die Zeit, in der sich erstmals in der Menschheitsgeschichte
Ballungszentren bildeten. So ist es bestimmt kein Zufall, dass in beiden Religionen die (Nächsten)liebe (Christentum) und das Mitgefühl (Buddhismus) eine zentrale Rolle spielen. Streit entsteht
nach Rosenberg durch gewaltsame „Du-Botschschaften“. („Du hast den Abwasch mal wieder nicht gemacht!“) und durch unterschiedliche Ansichten, welche Strategien adäquat sind, Bedürfnisbefriedigung
zu erreichen. Niemals entsteht der Streit jedoch aufgrund des Bedürfnisses an sich, weil Menschen mitfühlen. Der Buddhismus geht davon aus, dass alle Lebewesen nach Glück streben. Laut der
zweiten edlen Wahrheit des Buddhismusses suchen die Lebewesen nur an den falschen Stellen nach ihrem Glück aus Unwissenheit. Sie suchen ein Selbstbild zu verteidigen, dass durch „Du hast den
Abwasch mal wieder nicht gemacht!“ angegriffen wird. Sie hören daraus Sachen wie: „Du bist faul!“, „Du bist unzulänglich!“ u.s.w. Bleibt derjenige, der sich über das unabgewaschene Geschirr
ärgert, dagegen bei sich und hält die 4 (5) Schritte ein, vermutet der angesprochene dahinter keinen Angriff. Die spannende Frag bleibt: warum? Ist es wirklich die Eindeutigkeit auf den 4 Ebenen
und die damit einhergehende Einschränkung der Interpretationsmöglichkeiten oder steckt da noch mehr dahinter?
Menschen wollen von Natur aus helfen und zum gemeinsamen Glück beitragen. Aber sie
wollen auch, dass man ihren freien Willen respektiert und akzeptiert. „Du hast den Abwasch mal wieder nicht gemacht!“ bietet keinen Freiraum für Entscheidungen.
Schlussendlich entstehen Kommunikationsstörungen vielleicht aus Missencodierungen
(auf den drei Ebenen). Konflikte dagegen entstehen auch durch gefühlte Angriffe auf das Selbstbild und gefühlten Zwang und Bevormundung.
GFK bietet für alle drei Ursachen eine Lösung: 1. durch Aufspalten in die 4
Kommunikationsebenen werden Missverständnisse vermieden, 2. der Angriff auf das Ego bleibt aus und 3. die Wahlfreiheit bleibt bestehen beim Gegenüber.
Schulz von Thun hat einmal gesagt: „Solange Rosenberg die vier Komponenten als
Hilfe zur Selbstklärung versteht und als eine Möglichkeit zur Kommunikation, als eine Option, so lange ist er für mich ein Bruder im Geiste.“
Abschließend kann man also sagen, dass das Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun
ein gutes Werkzeug ist, um Kommunikation zu analysieren und Kommunikationsstörungen (und damit einen Teil der Konflikte) zu vermeiden. Um jedoch einen weitaus größeren Teil von Konflikten (wenn
nicht alle) zu vermeiden, braucht es dann doch nicht nur von Thuns Analytik sondern auch Rosenbergs Empathie und Gewaltfreiheit. Aber die GFK kann durch das Vier-Ohren-Modell komplettiert werden,
indem die bis dahin nicht explizit erwähnte Beziehungsebene als 5. Schritt in die Kommunikation mit einbezogen wird.
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