Mein Handy nach einem Tag offline.
Stephie musste heute arbeiten, Oliver war bereits am Morgen nach Frankfurt aufgebrochen, Fahd ging in die Zahnarztpraxis, in der er sein Praktikum absolvierte. Ich hatte keine Idee, wie ich diesen meinen letzten freien Tag verbringen sollte, bevor die Uni morgen losging.
Ich fragte im Whats-Appp-Chat „Dresdener Klarträumer“ und Don Rinatos gab mir einen Tipp:
„An einem freien Tag kann man ein ‘Leuchtturm der Klarheit’ aufbauen. Weg von Computer, Fernseher und Nachrichten. Hin zur ungeführten Meditation. Danach rausgehen in die Natur und die ganze Zeit den Tag als Traum behandeln. Wenn der Leuchttumr aufgebaut ist, leuchtet er in der Nacht.“
Meine Antwort: „Gut. Dann gehe ich mal off. Das Wetter ist dazu nicht sehr einladend. Und ich habe immer noch eine Aversion gegen Mediation. Aber ich mache es trotzdem. Bis morgen… (voll der Entzug!)“
9:38 h stellte ich das Handy aus und sollte es erst gegen sechs Uhr früh mit den ersten Sonnenstrahlen am nächsten Tag wieder anstellen. Es wehrte sich zuerst und ging von alleine wieder an. Aber mein Entschluss stand fest: Ich würde jetzt einen Tag offline sein. Ich hatte das schon öfter mal probiert für ein paar Stunden und immer waren die Erlebnisse, die dann stattfanden besonders. Heute würde es nun ein ganzer Tag sein. Ich ließ es zu Hause auf dem Schreibtisch liegen und machte mich auf den Weg in die Stadt. Vorher hatte ich auf dem Sofa meditiert.
Ich hatte vor, am Hackeschen Markt ein veganes Frühstück zu mir zu nehmen. Cravingattacken überkamen mich und sogar Anflüge von Panik bei dem Gedanken daran, dass ich nicht auf mein Handy gucken kann. Ich musterte die Bahnfahrer, die mit mir im Abteil saßen. Nicht jeder starrte auf sein Handy und war gefangen in der digitalen Welt. Einige unterhielten sich. Ein dicker Mann saß einfach nur so da und beobachtete mich. Dann murmelte er irgendwas.
Am Ostkreuz änderte sich schlagartig das Publikum. Jetzt kam Leben in die Bahn. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wo das Cafe war, in das ich wollte: Hackescher Markt oder Friedrichstraße? Ich stieg an der Friedrichstraße aus. Vor dem ARD Hauptstadtstudio stand eine Traube Menschen an der Spree um einen Mann, der dozierte. Ich stellte mich dazu. Es war offensichtlich ein Lehrer, der seiner Schulklasse von der Teilung Deutschlands erzählte und den Grenzverlauf beschrieb. Er erläuterte, dass es damals verboten war, anders zu denken als der Staat es vorgab. Ich fragte ihn, ob ich mich ihnen anschließen kann. Er sagte: „Weiß ich nicht! Frag sie!“ und deutete auf seine Klasse. Ich fragte die Schüler und deutete ihr verblüfftes Schweigen als Zustimmung.
Der Lehrer sprach nicht von der AfD, sondern nur von der „neuen Partei“ und davon, dass es noch verpönt wäre, für diese zu arbeiten. Daraus und dass er Gregor Gysi kritisierte, schloss ich, dass er ein Anhänger sein musste. Es gruselte mich, dass die AfD soweit ins Bürgertum vorgedrungen war. Er erzählte von den Mauertoten. Zwei junge Männer im Alter von 14 und 15 Jahren schwammen einst über die Spree um zu fliehen. Ein Grenzsoldat eröffnete das Maschinengewehrfeuer. Ein westdeutscher Polizist zückte auf der anderen Seite seine Pistole und erschoss den Soldaten. In der DDR wurde der Gefallene als Held verehrt. Dass er mit der Art, in der er die Geschichte erzählte, den Polizisten ebenfalls als Held verehrte, merkte er wohl nicht. Wie viele seiner Schüler würden das wohl merken? Wir kamen an eine Gedenktafel für die Mauertoten. Über tausend Tote. Über meinem Kopf erschien ein Fragezeichen: „Was? Nur tausend Tote in der ganzen Zeit? Das schaffen die USA heute in drei Tagen, wofür die sozialistische Militärdiktatur damals 40 Jahre gebraucht hat!“ Als hätte er meine Gedanken erahnt, erzählte er, dass vor allem Westdeutsche sich oft über die geringe Zahl wundern. Im Mittelmeer ertränken dieser Tage doch viel mehr. Aber das könne man nicht vergleichen. Ich weiß nicht mehr welche Umschreibungen er fand, aber er stellte es so dar, dass die Mauertoten schlimmer waren.
Ich hatte genug gehört und ich hatte Hunger. Ich verließ die Gruppe und schmuggelte mich in den Bundestag. Ich wollte in der Kantine etwas essen. Doch die Wachfrau am Eingang hielt mich auf. Das wäre kein öffentliches Gebäude und sie würde mich bitten, es zu verlassen. Ich fragte, wo ich etwas essen könnte. Sie beschrieb mir den Weg zum S-Bahnhof, den ich gekommen war.
Ich fragte in drei Läden. Niemand bot veganes Essen an. Beim Inder bekam ich dann endlich veganes Essen. Danach fühlte ich mich sehr schläfrig und müde. Ich fuhr nach Hause zurück und legte mich schlafen. Ich wachte auf und war verwirrt: Wo war ich? War ich hier richtig? Ich machte einen Eintrag ins Traumtagebuch, weil ich dieses Gefühl, falsch zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein so eindrücklich fand.
Ich ging erneut zur S-Bahn. Am Bahnhof kaufte ich mir eine Schale Heidelbeeren.
Ich beobachtete wieder den Stimmungswechsel am Ostkreuz. Eine junge blonde Frau in alternativer Kleidung kam herein und ich spürte, wie meine Gestalt ihren Blick anzog. Doch sie streifte mich bloß und stellte sich in den Türbereich mit dem Rücken zu mir und senkte ihren Kopf. Ich streckte mich, um zu sehen, was sie in der Hand hielt. Es war kein Handy. Es war ein Stück Papier. Sie las etwas. Ich war neugierig. Aber ein junger Mann stand bei ihr. Sollte ich sie ansprechen?
Ich stand auf und stellte mich in den Türbereich. Augenblicklich verließ der junge Mann den heiß begehrten Platz und setzte sich auf meinen Platz. Ich schmunzelte innerlich: eine Win-Win.-Situation! Ich stellte mich neben sie und versuchte die Worte auf dem Zettel zu lesen. Es ging um Wandel. Angesichts ihrer alternativen Kleidung, weites Oberteil, bunter Rucksack, orangene Pluderhose und Sandaletten ohne Strümpfe (bei dieser Kälte und Nässe), vermutete ich einen esoterischen Text. Sie erinnerte mich an Alina als wir uns das erste mal begegneten. Aber sie las diesen Text nicht nur einmal, sie las ihn immer wieder,
„Lernst du das auswendig?“, fragte ich.
„Ja. Wir arbeiten an einem Theaterstück.“, lächelte sie zurück. „Es ist ein Text aus der griechischen Mythologie. Er sagt, dass alles nur Transformation und Wandel ist.“
„Klingt wie der Energieerhaltungssatz aus der Physik: Nichts kann aus dem Nichts entstehen und nichts kann ins Nichts verschwinden.“, antwortete ich.
„Ja. Am Anfang geht es um die vier Elemente, aber am Ende ist das ziemlich aktuell.“
„Sagst du mir, wann die Aufführung ist?“
Sie schaute mich hilflos an: „Wie?“
Ich kramte einen Flyer aus meiner Tasche und reichte ihn ihr.
„Ach! Das ist ja merkwürdig! Klarträumen! Meine Freundin macht das! Sie zählt ihre Finger.“
„Ja. Das ist auch mein Lieblingsrealitycheck,“
„Gibt es auch noch andere?“
„Du kannst dir die Nase zu halten und versuchen zu atmen. Im Traum klappt es. Du kannst etwas lesen, weggucken und es wieder lesen. Im Traum hat es sich meistens verändert. Was machst du jetzt?“
„Ich fahre zum Zahnarzt.“ Sie erfasste meinen enttäuschten Blick und sagte: „Ja. Nicht die beste Beschäftigung.“
Ich erzählte, dass mein ehemaliger Mentor, mir die Aufgabe gegeben hatte, einen Tag ohne Internet, Handy und Fernsehn zu sein, was mir ziemlich schwer fallen würde, und dafür rauszugehen und so zu tun als wäre alles ein Traum. Jetzt wäre ich auf dem Weg zum Fernsehturm, um dort hinauf zu fahren.
In ihren Augen flammte Begeisterung, Bewunderung und Sehnsucht auf.
„Einfach so?“
„Einfach so.“
„Kann man auch fliegen?“
„Fliegen ist die natürliche Fortbewegungsform im Klartraum. Du kannst durch Wände gehen. Du kannst in andere Traumpersonen switchen und ihre Gedanken und Emotionen lesen. Ist alles möglich.“
Hinter uns hatte sich eine Schlange Menschen gebildet, die am Alexanderplatz aussteigen wollten. Es blieb nur Zeit, für ein schnelles „Tschüss“ und der magische Moment war vorbei.
Ich tauchte in das Menschengewimmel am Alexanderplatz. Hätte ich sie zum Arzt begleiten sollen? Wäre sie mit mir mitgekommen? Wahrscheinlich ja. Ich fragte Sicherheitsleute am Fernsehturm, wo denn der Eingang wäre. Sie sagten, heute wäre geschlossen: Wartungstag. Ich spürte Reaktanz: Was sollte das? Just an dem Tag, an dem ich innerhalb von 17 Jahren einmal auf den Fernsehturm will, ist er geschlossen!? Ich schaute hinauf: Ich könnte fliegen. Aber ich hatte nicht genug Kontrolle. Ich fügte mich dem Traumstrom und beschloss ins Adlon am Brandenburger Tor zu schlendern und dort zu essen. Ich dachte mir, dass das Luxushotel am ehesten auf Veganer vorbereitet sein sollte. Auf dem Weg kam ich am Dom vorbei. Komisch: ich war da nie drin! Ich beschloss, hinein zu gehen. Ich war mir unsicher, ob das überhaupt möglich sein würde. Vor dem Dom bot ein Straßenhändler Souvenirs an. Sozialistische Orden und Mützen, denen man ansah, dass sie gefälscht waren, Madroschkas und Feuerzeuge. Ich sah seine Verzweiflung in seinen Augen. Ich öffnete eine Madroschka, um zu sehen, wie viele Teile sie enthielt. Er sagte: Es sind sechs! Und führte mir es eifrig vor. Ich fragte: „How much?“ Er sagte: „10 euro“. Das war ein beachtlicher Preis und ich unterdrückte den Impuls zu feilschen. Im Adlon nachher würde ich viel weniger bekommen für viel mehr Geld und würde freiwillig mehr zahlen. Warum sollte ich diesen armen Mann um seinen Tageslohn bringen? Ich fragte, ob die Gasmaske funktionstüchtig sei. Ja. War sie. Eine echte Gasmaske. Vielleicht würde ich sie irgendwann brauchen. Genau wie den Geigerzähler, der bei mir zu Hause im Schrank lag. Aber ich hatte keinen Rucksack dabei. Ich entschied mich für ein Zippo und die Madroschka, zahlte 18 EUR und ging. Vorher wollte er mir noch zeigen, dass das Feuerzeug auch funktionierte, aber ich lehnte ab. Ich spürte seine dankbare Verwunderung.
Im Dom kam ich zuerst in einen Raum der Stille. Ich setzte mich und wünschte mir Weltfrieden. Was war das? Betete ich gerade? Nein. Der Unterschied zu einem Gebet war der Adressat: ich wünschte mir das nicht von Gott sondern von mir selbst. Ich steckte einen Zettel ein und verließ den Raum wieder.
Am Eingang war ein Touristenstrom. Ich fragte eine Kassiererin, ob ich ihre Toilette benutzen dürfte. Sie sagte, dafür müsste ich Eintritt bezahlen. Aber ich könnte auch durch den Souvenirshop gehen, da käme ich zur Toilette. Es war allerhöchste Zeit. Die Heidelbeeren müssen verdorben gewesen sein. Ich hatte schlimmen Durchfall.
Einmal drin im Dom, beschloss ich, ihn mir anzugucken. Ich feixte innerlich, dass ich dafür nichts bezahlt hatte. Überall standen Opferschalen für Spenden. Sogar die Kerzen, die man anzünden konnte, waren mit einem Eur ausgepreist. Ich spürte Wut. Die reiche Kirche war dem Geiz verfallen. Ich stieg auf den Turm. Überall filmten die Leute mit ihren Handies. Nur ich hatte keine dabei. Ich fühlte mich einsam dabei, diesen Traum gerade mit niemandem teilen zu können.
Ich ging am historischen Museum vorbei. Ich hatte ja nun gelernt, wie man kostenlos hereinkam in solche Gebäude und stromerte auch dort umher. Die Leninstatue war beeindruckend. Und die Geschichte dazu noch mehr: Sie stand in Puschkin bei Leningrad. Die Nazis stellten die Dorfbewohner vor die Wahl: Entweder sie opferten ihre Kirchenglocken oder ihre Leninstatue für Kriegsmaterial. Den Bewohnern war die alte Religion wohl näher als die neue und sie entschieden sich für die Statue. Sie kam nach Eisleben (einer Stadt in meiner Heimat). Dort passte sie nicht in den Schmelzofen und überdauerte den Krieg. Als die rote Armee in Eisleben einzog, stellten die Bewohner Lenin auf dem Markt als Willkommensgruß aus. Die Soldaten waren so gerührt, dass sie die Statue der Stadt zum Geschenk machten. Nach der Wende 1989 schämte man sich für die Statue und wollte sie loswerden. So kam sie ins historische Museum. Und heute stand ich vor ihr und musterte den Mann, der in Arbeiterkleidung breitbeinig vor mir stand und gleich einem Pharao in Moskau im Mausoleum ruhte.
Ich schlenderte zum Adlon. Würden sie mich überhaupt hereinlassen?
Der Empfang machte seinem Namen Ehre und fing mich ab.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragte er freundlich aber mit dem Unterton: „Was wollen Sie hier?“
„Kann ich bei Ihnen essen?“
„Was Kleines?“
„Was Veganes ohne Zucker.“
„Nehmen Sie in der Lobby platz! Sie werden bedient.“
Ich liebe diese Luxusatmosphäre. Wenn sie später zu meinem Alltag gehören wird, werde ich mich dann nach einer Jugendherberge sehnen? Die Antwort lautete eindeutig: Nein!
Ich wurde von drei Kellnern bedient. Sie fragten in der Küche nach veganem Essen ohne Zucker. Die Kellnerin war untröstlich: Tomatensuppe wäre mit Fruchtzucker und Kartoffelsuppe mit Stärke!
„Das ist ok. Als Gewürz ist Zucker ok. Es sollte nur nichts Süßes sein.“
Ich bestellte eine Kartoffelsuppe und Bratkartoffeln mit Zwiebeln.
Ich trank nichts, obwohl sie mit etwas aufdrängen wollten. Schließlich waren die Getränke das Teure. Ich zahlte 20 eur und verließ das Luxushotel.
Draußen war eine Friedensdemo. Nicht mehr als dreißig Mann nahmen teil. Nicht viele in Anbetracht der Tatsache, dass der dritte Weltkrieg bevorsteht…